Insbesondere auf der Händlerseite scheint dieser Tage in Europa die Angst vor der Verdrängung, des Rückzugs oder gar des vollständigen Aussterbens des stationären Einzelhandels zum Greifen nahe zu sein. Mögliche Indikatoren für eine Retail-Apokalypse sind schnell ausgemacht: Sinkende Besucherraten von innerstädtischen Einkaufszonen, leerstehende Ladenzeilen oder die Schließung von Shops bekannter Handelsketten malen ein düsteres Bild von der Zukunft des traditionellen stationären Einzelhandels.
Doch wo Verlierer sind, gibt es auch Gewinner: Der Siegeszug des Online-Handels hält weiter an. Einst treue Kunden der stationären Shops für ihre Shopping-Touren scheinen endgültig und unwiderruflich in digitale Einkaufswelten abwandern. Die Verantwortung für die Krise des stationären Handels liegt für viele Einzelhändler (und auch Konsumenten) bei den Online-Anbietern. Denn Online-Shopping geht einfacher, schneller, es gibt mehr Produktauswahl, höheren Komfort (z. B. Retour-Sendungen) und meist weitaus preiswertere Angebote.
Der stationäre Einzelhandel in Europa ist also unweigerlich dem Untergang geweiht!? Zum Glück nicht. Doch um auf dem wandelnden europäischen Einzelhandelssektor bestehen und in naher Zukunft erfolgreich sein zu können, braucht es meiner Meinung nach, zweierlei:
- Retailer brauchen Mut zur Veränderung statt Angst vor den Neuerungen
Die Angst vor dem Aussterben der traditionellen stationären Läden innerhalb Europas ist groß, doch die Angst vor Veränderungen auf dem Einzelhandelssektor scheint noch viel größer zu sein. Dabei ist der stationäre Einzelhandel in Europa genau wie das Einkaufsverhalten im ständigen Wandel begriffen. Vor ungefähr 10 Jahren waren es die Traditionsgeschäfte, die sich Sorgen um die Handelsketten in den Innenstädten machten. Heute sind es die Handelsketten, die um ihre stationäre Existenz kämpfen. Die Realität für Einzelhändler lautet nun: Nur wer sich dem wandelnden Einkaufsverhalten stellt, anstatt sich als Opfer des Wandels oder digitaler New Player zu begreifen, hat die besten Aussichten den nächsten Evolutionsschritt im europäischen Einzelhandel mitzuerleben und auszugestalten.
2. Die vollständige Buyer Journey von Retail-Kunden besteht aus dem Zusammenspiel von Online- und Offline-Kanälen
Vermutlich jeder Trend bringt einen Gegentrend mit sich. Sprich, je digitaler der (Shopping)-Alltag wird, desto mehr Retail-Kunden sehnen sich wieder nach physisch erlebbaren Einkaufserlebnissen. Laut einer Umfrage von smarterHQ kaufen 50% der Millenials nach wie vor lieber in stationären Shops ein. Doch in dieser vermeintlichen Rückbesinnung liegt nur die halbe Wahrheit.
Dank mobiler Endgeräte finden heutzutage wichtige Schritte in der Buyer Journey wie z. B. Preis- oder Produktvergleiche bereits vor dem Einkauf in stationären Shops oder parallel dazu statt. Der eigentliche Produktkauf kann dann unterwegs, im Laden oder von Zuhause durchgeführt werden. Käufer erwarten lediglich ein bequemes, schnelles und nahtloses Einkaufserlebnis, egal auf welchen Kanälen, Geräten oder an welchen Orten.
Weil die Grenzen zwischen Offline- und Online-Shoppingwelten mehr und mehr verschwimmen, sollten Händler genauso wie ihre Kunden online und offline agieren. Wer daher die Einkaufserlebnisse seiner Shops im Zusammenspiel mit dem Online-Kanälen vernachlässigt, klammert wichtige Aspekte der (künftigen) Buyer Journey aus und lässt wertvolles Potenzial ungenutzt.
Ein Umdenken auf dem europäischen Einzelhandelssektor ist erforderlich
Große Handelsketten in Europa schließen Filialen, da sie sich nicht als lukrativ erweisen, stattdessen konzentrieren sie sich auf das Online-Geschäft. Beispielsweise hat Hennes & Mauritz, einer der führenden Bekleidungshersteller in Europa, Anfang diesen Jahres beschlossen 170 Filialen in Europa zu schließen und sich vermehrt auf die Vernetzung der On-und Offline-Welt zu fokussieren. Ursächlich für diese Trendwende ist, laut Joachim Stumpf, Geschäftsführer der BBE Handelsberatung, dass H&M stationär betrachtet bereits die Wachstumsgrenze erreicht hat.
Ob Wachstumsgrenzen oder sinkende Verkaufszahlen bei nicht rentablen Shop-Konzepten – die Anzeichen, dass Veränderungungen auf dem europäischen Einzelhandelssektor dringend notwendig sind, verdichten sich. Die gute Nachricht ist, dass im stationären Handel weiterhin ungeahnte Potenziale stecken. Diese müssen nur mit neuen Möglichkeiten und Konzepten des Einkaufens entsprechend freigesetzt werden.
Die Potenziale des stationären Handels nutzen
Während immer mehr traditionelle Handelsunternehmen anfangen sich an den Online-Playern zu orientieren, entwickeln diese sich in die entgegengesetzte Richtung und erweitern ihre Online-Welt um Stores in der Innenstadt. Mit innovativen Technologien verknüpfen sie online und offline Shopping-Welten und schaffen mit einem Omnichannel-Ansatz ein einheitliches Einkaufserlebnis für den Kunden.
Beispiel 1: Farfetch „Ein Betriebssystem für den stationären Handel“
Das internationale E-Commerce Unternehmen Farfetch erweitert seine Online-Präsenz mit stationären Geschäften und beschreibt diese als ein „operating system for physical retail“.
Dieser smarte Store bietet:
- Tracking Systeme mit RFID in den Kleiderstangen
- Intelligente Spiegel in den Umkleidekabinen mit individuellem Nutzer-Login
- Verknüpfung mit den Tablets des Flächenpersonals für eine individuelle Kundenberatung
- Eine Mobile App für das Smartphone des Kunden, um sein Einkauferlebnis im Store selbst und individuell zu gestalten
Dies gibt Farfetch Zugang zu wertvollen Daten über das Kundenverhalten und kann so das das Sortiment und Einkaufserlebnis optimieren.
Click & Collect für mehr Besucher in der Stadt
Farfetch bietet Online die Option auf Click & Collect. Somit müssen die Kunden ein Geschäft besuchen, sobald sie ihr Produkt abholen möchten. Das Click & Collect Modell beweist, dass Kunden ihr gekauftes Produkte gerne sofort in der Hand halten möchten. Diese Erkenntnis wird immer für den stationären Handel sprechen, da Lieferzeiten von Online-Bestellungen bis auf weiteres länger dauern als der kurzfristige Besuch in einem lokalen Shop.
Beipiel 2: IKEA: Innovation trifft auf ein neues Ladenkonzept
Das schwedische Möbelhaus IKEA entscheidet sich für eine radikale Veränderung: IKEA möchte Digitalisierung für sich nutzen. Doch anstatt sich voll auf den Online-Handel zu konzentrieren, setzt IKEA vermehrt auf neue digitale Ladenkonzepte: Kleiner, smarter, schlanker und zentraler. Statt neuer großräumiger und eher dezentral gelegenen Möbelgeschäfte zieht IKEA künftig mit innovativen Pop-Up Stores und Showrooms in die Innenstädte. Die Produkte werden auf Digital Signages dargestellt, QR-Stationen verraten einfache Tricks, wie man umweltfreundlicher leben kann und Inspirationen aus dem herkömmlichen Einrichtungshäusern werden mithilfe von Virtual Reality ermöglicht. IKEA erfindet sich gänzlich neu und schafft damit ein interaktives Kundenerlebnis in der Innenstadt.
Smarte, vernetzte digitale Pop-Up Stores für ein besseres Einkaufserlebnis am POS
Das vorübergehende Nutzen von leerstehenden Verkaufsflächen mithilfe von Pop-Up Stores erweist sich im stationären Handel als Trend und sorgt für schnellen profitablen Warenabsatz. Verknüpft man dieses Konzept mit entsprechender Technologie kreiert man, dem digitalen Zeitalter entsprechend, ein innovatives Kundenerlebnis, denn Kunden kaufen heute nicht mehr einfach nur funktional und pragmatisch ein. Vielmehr möchten sie das Einkaufen und die Produkte auch erleben und idealerweise auch emotional berührt werden (z. B. „Einkaufen bei XY bringt mir am meisten Spaß, weil es so schnell, einfach und reibungslos geht“).
Insbesondere in Punkto Einkaufserlebnis bietet der stationäre Einzelhandel durch persönliche Ansprechpartner, dem physischen Erleben und der direkten Ansicht der Produkte viel mehr Möglichkeiten, um mit den Sinnen und Emotionen der Kunden zu interagieren. IKEA und Farfetch haben bereits aufgezeigt, wie sich die Potenziale des stationären Handels mit der Online-Shopping verbinden lassen.
Es ist Zeit für Veränderungen in der europäischen Retail-Landschaft
Obwohl der stationäre Handeln in Europa vor großen Herausforderungen in Bezug auf Preisdruck, anspruchsvollere Kundenbedürfnisse sowie wirtschaftliche und politische Veränderungen steht, hat der stationäre Handel in Europa seine Wachstumsgrenze noch lange nicht erreicht. Denn der stationäre Handel steckt voller verschiedener Möglichkeiten wie neues Einkaufen aussehen kann, ermöglicht durch Technologie wie QR, Click & Collect, die die On- und Offline-Welt miteinander verbinden. Es liegt also an den Unternehmen selbst die Chancen der Digitalisierung für den stationären Handel zu nutzen, um sich selbst neu zu erfinden.