Wie so viele der „gehypten“ Trends und branchenübergreifenden Best Practices (z. B. „Agile“) ist auch bei der „Digitalen Transformation“ die Wahrscheinlichkeit hoch, dass diese für Einzelhändler letztendlich unkonkret, konsequenzlos und daher nicht transformierend bleibt. Auch gutgemeinter Aktionismus mit einer Vielzahl von „transformierend“ klingenden Projekten (z. B. eine neue digitale App-Landschaft mit möglichst vielen Microservices aufbauen) führt nicht zwangsläufig zu mehr Umsatz, loyalen Kunden und einer zukunftsträchtigen Produktlandschaft. Mittlerweile begreifen jedoch viele Retailer, dass zu einer erfolgreichen Digitalen Transformation in der Regel ein optimaler Startpunkt, ein ständiger Orientierungspunkt („North Star“) und eine Zielrichtung gehören. Digitale Tranformation ist kein Ziel, welches erreicht werden kann, es ist ein sich stetig weiterentwickelner Prozess.
In diesem Artikel möchte ich vor allem auf die Frage eingehen, wie und wo ich als Einzelhändler mit der Digitalen Transformation beginnen soll.
Doch worum geht es bei der Digitalen Transformation, insbesondere im Einzelhandel, nochmal?
Vereinfacht gesagt: Gesellschaft und Unternehmen ändern sich auf der Grundlage des technologischen Fortschritts. Die Digitale Transformation trägt diesen Änderungsprozessen in beiden genannten Bereichen Rechnung. Digitale Transformation im Allgemeinen ist dazu da, Prozesse, Produkte und Services wie zum Beispiel BOPIS (Buy online, pick up in-store) mithilfe von neuen Technologien auf die Straße zu bringen, um den sich stetig wandelnden Kundenbedürfnissen zu entsprechen mit dem primären Ziel mehr Umsatz zu erzielen. Aber, Digitale Transformation zielt auch im Kern darauf ab, mithilfe von Technologie, die Customer Journey für den Konsumenten einfacher, praktischer und intuitiver zu gestalten.
Wo soll in einem Unternehmen mit Digitaler Transformation angefangen werden?
Für Retailer, die mit der Digitalen Transformation beginnen möchten, zählt es zunächst eine Vision zu entwickeln und sich darüber im Klaren zu werden, wohin die Digitalisierung führen wird. Außerdem benötigen Retailer konkrete Kennzahlen, mit denen sie den Erfolg messen können. Häufig fehlt jedoch zu Beginn der Digitalen Transformation die nötige Perspektive, die es möglich macht, die Vision und Kennzahlen im Blick zu behalten. Im Folgenden gebe ich einige Vorschläge, wie die Kundenperspektive genutzt werden kann, um das Kundenerlebnis und die digitale Transformation zu verbessern – ganz gleich wie die Vision oder die Kennzahlen aussehen.
Priorität Kunden(erlebnis)
Interessanterweise sind sich viele Unternehmen bereits bewusst, dass Kundenbedürfnisse und vor allem die Customer Experience von Produkten und Services mehr und mehr zu einem Alleinstellungsmerkmal im Wettbewerb werden. Immerhin wird im Global Customer Experience Benchmarking Report 2019 deutlich, dass 87% der befragten Unternehmen in Customer Experience einen zentralen Wettbewerbsfaktor sehen, da es positive Auswirkungen auf Kundenloyalität, Ertrag und Kosten hat.
Um es nochmal zu betonen: Digitale Transformation in seiner Idealform bedeutet mehr aus Kundensicht zu denken, sich als Einzelhandelsunternehmen kundenzentriert aufzustellen und seine Produkte, Dienstleistungen und internen Prozesse im Sinne der Customer Experience entsprechend auf die Kundenbedürfnisse auszurichten. Die Konzepte von Customer Experience und Customer Centricity helfen den passenden Startpunkt, die Richtung und das Ziel der Digitalen Transformation für ein Unternehmen zu bestimmen. Der erfolgreiche Einstieg bzw. Start in die Digitale Transformation erfordert jedoch zunächst, dass sich Denkweisen innerhalb von Unternehmen gänzlich verändern müssen.
Inside-Out Perspektive: Die Organisationsstruktur
Leider haben nur wenige große Unternehmen die notwendige Flexibilität sich den anspruchsvollen Kundenbedürfnissen anzupassen. Bestehende Legacy Systeme, komplexe Organisationsstrukturen und veraltete Denkweisen erschweren den Prozess. Informations-, Abteilungs- oder Datensilos sorgen für Schwerfälligkeit und Langsamkeit. Dabei erfordert Digitale Transformation und insbesondere die Verbesserung des Kundenerlebnisses, Verknüpfungen der Unternehmensaktivitäten (z.B. das Aufbrechen von Silos) für mehr Agilität und Innovation (Bernhard von Mutius, 2017: Disruptive Thinking – Das Denken, das der Zukunft gewachsen ist, S.94).
Eine Restrukturierung der Unternehmensorganisation bietet die Möglichkeit flexibler auf die sich schnell verändernden Kundenbedürfnisse zu reagieren, um am Markt weiterhin wettbewerbsfähig zu bleiben.
Outside-In Perspektive
Um herauszufinden, wo idealerweise mit einer Restrukturierung begonnen werden sollte, empfiehlt sich die die Outside-In Perspektive. Sie hilft nicht nur Kundenbedürfnisse und -verhalten zu verstehen. Es wird dabei die gesamte Organisationsstruktur aus der Kundenperspektive betrachtet. Dieser Ansatz aus dem Service Design verhilft das eigene Unternehmen zu verstehen und idealerweise daraus ableitend zu verändern. Mit verschiedenen Frameworks aus dem Service Design, wie zum Beispiel das Customer Journey Mapping, können Lücken zwischen Unternehmen und Kundenerwartung, redundante Prozesse und Optimierungspotenziale entlang der gesamten Wertschöpfungskette identifiziert werden. So stellt sich heraus, welche unternehmensinternen Prozesse mobilisiert, transformiert und welche tatsächlich digitalisiert werden müssen.
Das Lösen von realen Problemen
Welche Herausforderungen sich auch immer in der Wertschöpfungskette der Einzelhändler auftun – der Kunde hat kein Verständnis dafür. Es interessiert ihn nicht, wie ein Unternehmen seine eigenen Herausforderungen bewerkstelligt oder was es ihn kostet. Was zählt ist, als Kunde die beste branchenübergreifende Customer Experience erhalten und für Unternehmen wie sie diese realisieren. Das Lösen der kundeneigenen Probleme (z.B. wie genervte Mitarbeiter, keine Warenverfügbarkeit, lästiges Anstehen an der Kasse, verspätete Zustellungen) bevor der Kunde von dem Problem erfährt, führt langfristig zu einer verbesserten Kundenbindung und Loyalität und langfristigem Wettbewerbsvorteil und somit auch zu mehr Umsatz.
Retailer müssen aufhören das Erzielen von mehr Umsatz und Gewinne in den Vordergrund ihrer Geschäftsaktivitäten zu stellen. Das Ziel der Digitalen Transformation sollte sein, dass alle Bereiche eines Unternehmens end-to-end harmonisch zusammenspielen, um ein einzigartiges Kundenerlebnis zu orchestrieren. „Ein kleiner Fehler in einem einzelnen Bereich kann eine Dissonanz in den Ablauf bringen, die den zufriedenen Kunden zu einem genervten Kaufabbrecher werden lässt.“ Die größte Herausforderung eine einzigartige Customer Experience zu schaffen ist, die Annahmen und Wahrnehmungen die man als Unternehmen gegenüber den Kunden hat, zu validieren.
Das Kundenverhalten verändert sich genauso wie der technologische Stand – daher wartet die sogenannte „Digitale Tranformation“ nicht auf seine Teilnehmer. Wer es nicht begriffen hat, wie digitale Technologien für transformierende Änderungsprozesse genutzt werden können, bleibt zwangsläufig zurück. Doch Technologie ist nicht der Key-Driver der Veränderungen in der heutigen Zeit, es sind die Bedürfnisse der Menschen, die zunehmend anspruchsvoller werden und es gilt diese mithilfe von Technologie zu erfüllen.